Wie funktioniert eigentlich systemische Arbeit?
Neue Perspektiven, neue Lösungen – warum zum Beispiel Reframing so wirksam ist
Vielleicht hast du schon einmal von systemischer Therapie oder systemischem Coaching gehört, aber was genau steckt dahinter? Anders als viele klassische Therapieansätze beschäftigt sich die systemische Arbeit nicht nur mit dem einzelnen Menschen, sondern mit seinem gesamten Umfeld – seinen Beziehungen, seinen Mustern und den Dynamiken, die sein Leben prägen. Systemische Arbeit geht davon aus, dass jedes Verhalten, jedes Gefühl und jedes Problem nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern immer in einem größeren Zusammenhang steht. Statt nur nach der Ursache eines Problems zu suchen, stellt sie eine andere Frage: Wofür ist dieses Verhalten einmal entstanden? Und wie kann es heute verändert werden, damit es wieder hilfreich ist?
Ein zentrales Konzept dabei ist das Reframing – also das bewusste Umdeuten oder Neurahmen von Situationen, Gefühlen oder Überzeugungen. Durch eine veränderte Perspektive kann aus einem Problem eine Stärke werden, aus einer Sackgasse ein neuer Weg.
Warum jedes Verhalten ursprünglich sinnvoll war
Jedes Verhalten, das wir zeigen, hatte irgendwann einmal eine Funktion. Auch wenn es heute als problematisch empfunden wird, ist es meist eine Strategie, die unser System irgendwann entwickelt hat, um mit einer bestimmten Situation umzugehen. Angst schützt uns davor, unüberlegt Risiken einzugehen. Perfektionismus gibt uns Kontrolle in unsicheren oder anspruchsvollen Umfeldern. Rückzug hilft, Überforderung zu vermeiden und sich innerlich zu sortieren.
Das Problem ist, dass etwas, das einmal nützlich war, sich im Laufe des Lebens überholen kann. Ein Schutzmechanismus, der früher sinnvoll war, kann heute eine Belastung sein. Systemische Arbeit hilft, diese Dynamik zu erkennen und zu verstehen, warum wir manche Verhaltensweisen nicht einfach „loswerden“, sondern sie erst in ihrem ursprünglichen Nutzen begreifen müssen, bevor Veränderung möglich ist.
Reframing: Wenn sich die Bedeutung ändert, ändert sich das Erleben
Eine der kraftvollsten Methoden in der systemischen Arbeit ist das Reframing – also das „Umrahmen“ oder Umdeuten einer Situation in einen neuen Bedeutungszusammenhang.
Ein einfaches Beispiel ist lautes, ausgelassenes Lachen.
Auf einer Party wird es als Freude, Geselligkeit und Unbeschwertheit wahrgenommen.
Auf einer Beerdigung kann es deplatziert oder unangemessen wirken.
Es ist also nicht das Lachen an sich, sondern der Rahmen, der darüber entscheidet, wie es bewertet wird.
Dasselbe Prinzip gilt für viele persönliche Überzeugungen. Jemand, der sich selbst als „zu vorsichtig“ beschreibt, könnte aus einer anderen Perspektive feststellen, dass er in der Lage ist, Situationen genau zu analysieren und Risiken klug abzuwägen. Jemand, der glaubt, „zu viel zu reden“, könnte auch erkennen, dass er durch seine Offenheit andere inspiriert und Verbindungen schafft. Wer sich als „unentschlossen“ wahrnimmt, könnte gleichzeitig jemand sein, der gründlich nachdenkt, bevor er eine Wahl trifft.
Das Reframing verändert nicht die Realität, aber es verändert, wie sie wahrgenommen wird – und das macht oft den entscheidenden Unterschied.
Systemische Arbeit sucht nicht nach Schuld, sondern nach Lösungen
Viele klassische Therapieansätze konzentrieren sich stark auf die Frage: Warum ist das Problem entstanden?
Systemische Arbeit stellt stattdessen eine andere Frage: Was braucht es, damit Veränderung möglich wird?
Ein Beispiel: Eine Frau sucht eine Beratung auf, weil sie in ihrer Familie immer diejenige ist, die alles organisiert und sich um alles kümmert. Sie fühlt sich überfordert und wünscht sich, dass die anderen mehr Verantwortung übernehmen. Ein klassischer Therapieansatz könnte sich damit beschäftigen, warum sie sich so verhält – vielleicht gab es frühere Erfahrungen, die sie in diese Rolle gebracht haben. Ein systemischer Ansatz würde zusätzlich fragen: Was würde passieren, wenn sie sich anders verhält? Wer würde reagieren – und wie?
Die systemische Perspektive macht deutlich, dass unser Verhalten immer auch eine Reaktion auf unser Umfeld ist. Wenn jemand gewohnt ist, dass eine Person alle Aufgaben übernimmt, wird er sich nicht von selbst ändern. Deshalb reicht es oft nicht, an sich selbst zu „arbeiten“ – es braucht auch ein Bewusstsein dafür, wie das gesamte System auf eine Veränderung reagieren könnte.
Von der Problemtrance zur Lösungstrance
Viele Menschen sind gefangen in einer „Problemtrance“: Sie erzählen sich immer wieder dieselbe Geschichte darüber, warum etwas nicht funktioniert. Systemische Arbeit lädt dazu ein, stattdessen in eine „Lösungstrance“ zu wechseln.
Statt zu fragen: „Warum bin ich so gestresst?“ → „Was könnte mir heute ein wenig Entspannung bringen?“
Statt zu denken: „Ich bin nicht gut genug.“ → „Welche meiner Fähigkeiten habe ich bisher unterschätzt?“
Statt sich zu fragen: „Warum kann ich das nicht?“ → „Wie würde es sich anfühlen, wenn ich es könnte?“
Diese bewusste Umfokussierung kann oft mehr bewirken als das monatelange Analysieren von Problemen.
Fazit: Systemische Arbeit eröffnet neue Perspektiven
Systemische Therapie und Coaching setzen darauf, das große Ganze zu betrachten, anstatt nur einzelne Symptome zu bekämpfen. Jedes Verhalten hat eine Geschichte – aber es muss nicht für immer so bleiben. Durch Methoden wie Reframing, Perspektivwechsel und lösungsorientierte Fragen können wir festgefahrene Muster durchbrechen und neue Wege für uns selbst entdecken. Vielleicht liegt die Lösung nicht darin, etwas loszuwerden, sondern darin, es neu zu sehen.
Und wenn sich die Perspektive ändert – was wird dann möglich?